Intuition und Vorstellung

Die Beschäftigung mit Erkenntnis und ihre Verwirklichung durch die Verbindung von Wahrnehmung und Begriff kann die Frage aufwerfen, woher die Wahrnehmung und der Begriff kommen, und wie sie in Erscheinung treten. Wir können feststellen, dass wir Wahrnehmungen durch unsere Sinne und Begriffe durch unser Denken erhalten. Die Quelle für Wahrnehmungen ist die Beobachtung, und die Quelle für Begriffe können wir Intuition nennen. Uns sind also zwei Quellen gegeben, durch welche die Welt in unser Bewusstsein strömt. Deshalb erscheint die Welt zunächst dual. Die Aufgabe der Erkenntnis ist es, die Ströme dieser beiden Quellen zu einem harmonischen Ganzen zu verbinden. Beobachten wir mit den äußeren Sinnen, so sind wir uns bewusst, dass wir etwas wahrnehmen, das ohne unser Zutun in Erscheinung tritt. Dies ist anders bei einem Gedanken, an dessen Entstehung wir innig beteiligt sind. Gedanken erscheinen direkt in unserem Bewusstsein. Sollen sie eine Tatsache im Außen werden, erfordert dies unsere Tätigkeit.

Obiger Absatz steht in Konflikt mit einigen heute recht verbreiteten Weltanschauungen. Denken kann zum Beispiel als von der Welt losgelöste Tätigkeit aufgefasst werden, die in jedem Individuum beliebige Wege gehen kann und eigenständig Begriffe erschafft. Als Beispiel dafür können die von jeder Wahrnehmung losgelösten, spekulativen Gedankengebäude und inhaltsleeren Begriffshülsen angeführt werden, die ein Mensch zu denken in der Lage ist. So kann das Denken als rein materiell bewirkter Vorgang angenommen werden, obwohl diese Theorie nicht in Wahrnehmung gründet. Es lässt sich zwar beobachten, dass Gedanken und Gefühle im Körper eine Aktivität bewirken können. Dass jedoch der Gedanke selbst durch einen chemischen oder physischen Vorgang im Körper erschaffen würde, lässt sich nicht beobachten. Die Annahme, dass dies eines Tages möglich sein müsste und dann eine denkende Maschine gebaut werden kann, ist eine Folgerung aus dem Glaubenssatz, dass die Welt aus Materie besteht und alle ihre Phänomene durch diese bewirkt werden. Diese Weltanschauung überträgt die Gesetze der Physik auf das Leben und das Denken und kann beides nicht erklären. Ein solches Gedankengebäude kommt über die Beschreibung physikalischer Vorgänge in lebenden Organismen nicht hinaus und führt so ein eine Sackgasse. 

Mit unserem Denken begreifen wir die Welt. Wir stehen damit mitten in der Welt. Auch das Denken folgt Regeln, und diese sind universell. Die Regeln oder Gesetze des Denkens sind in Harmonie mit den Gesetzen des Kosmos und ermöglichen es uns, die Gesetze der Natur zu erfassen. Die Naturgesetze sind Begriffe, die wir entdecken. Wir haben diese Gesetze nicht erschaffen, sie sind Teil der Natur. Aber wir haben sie gefunden, Kraft unseres Denkens erfasst und in mathematischer Form abgebildet. Erst die Fähigkeit des Menschen führt dazu, dass Begriffe mit Zeichen, Zahlen und Worten in Erscheinung treten können. Die Begriffe sind aber vorher schon da. Wir haben im Denken einen Zugang zu ihnen durch die Intuition, und wir geben ihnen Namen. 

Ausgangspunkt dafür ist das Wahrnehmen. Jede Wahrnehmung regt unser Denken an. Erst die Verbindung von beidem ermöglicht es uns, Erfahrung zu erwerben. Ohne Denken zieht jede Wahrnehmung folgenlos an uns vorüber, und ohne Wahrnehmen können wir die Begriffe auf nichts beziehen. An dieser Stelle eröffnet sich uns eine neue Perspektive auf den Begriff der Vorstellung. Diese stellt sich nämlich zunächst vor einen Begriff und verdeckt diesen. Die Vorstellung steht zwischen Wahrnehmung und Begriff. Ein Begriff erhält in uns einen über die Dauer einer Beobachtung hinaus bleibenden Bezug zu einer Wahrnehmung und wird damit zu einer Vorstellung. Die Vorstellung kann also als individualisierter Begriff aufgefasst werden, welcher die Wirklichkeit in unserem Weltbild repräsentiert. Meine Erfahrung wird umfangreicher mit der Zahl meiner Vorstellungen.

Das Entdecken des Begriffs beginnt mit einer Vorstellung. Die Vorstellung entsteht durch die Verknüpfung einer Wahrnehmung mit dem Begriff und bleibt uns über den Moment des Erkennens hinaus erhalten. Wenn ich eine Vorstellung habe, habe ich den Begriff deshalb aber noch nicht unbedingt in Gänze erfasst. Verbleiben wir in unseren Vorstellungen, so denken wir naiv. Von einer Vorstellung ausgehend können wir uns zum allgemeinen Begriff vorarbeiten, zur Idee hinter der Erscheinung. Das ermöglicht begriffliches und kritisches Denken. Die Vorstellung bedarf immer der eigenen Wahrnehmung einer speziellen Erscheinung in der Welt, der Begriff hingegen kann auch erklärt werden. Wenn ich in meinen individuellen Vorstellungen denke, fühle ich mich der Welt gegenüberstehend. Wenn ich begrifflich denke, werde ich ein Teil der Welt.

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