Einer der frühen Artikel auf diesem Blog beschäftigt sich mit Sprache, mit Worten und ihrer Bedeutung, und ist überschrieben mit dem Titel “Unsere Sprache ist ein Chaos”. Da stellt sich natürlich die Frage, wie wir damit umgehen sollen. Wohin gelangen wir mit dem Anspruch, das jedes Wort klar definiert sein soll, jeder Mensch von der Bedeutung eines Wortes genau die gleiche Vorstellung haben soll? Ist das ein realistisches Ziel? Gäbe es dann keine Missverständnisse mehr?
In unserem alltäglichen Denken verbinden wir Worte oft mit Vorstellungen. Wir hören “Tasse” und wir haben sofort ein Bild vor Augen. Sind wir beauftragt, eine Tasse zu holen, dann wissen wir in einer uns bekannten Umgebung schon, welche Tassen wir vorfinden werden. Wenn wir die Person, die um die Tasse gebeten hat, ebenfalls schon kennen, dann wissen wir vermutlich auch, welche Tasse sie haben will, und wir bringen das gewünschte Objekt, selbst wenn viele verschiedene Tassen im Schrank stehen. Etwas schwieriger wird es in fremden Häusern mit fremden Personen. Dort gibt es vermutlich etwas andere Tassen. Vielleicht sind dort nur besondere, antike Tassen, die wir allesamt noch nie gesehen haben. Dennoch werden wir sie als Tassen erkennen. Wie ist das möglich? Weil sie ähnlich sind, wirst du vielleicht sagen. Das spielt eine Rolle. Aber der eigentliche Grund ist unser Verständnis vom Begriff Tasse. Wir kennen die Wesensmerkmale einer Tasse, kennen ihre Anwendung. Wir wissen, welche Eigenschaften sie haben muss, was möglich sein muss. Deshalb wissen wir, worauf es bei einer Ähnlichkeit ankommt, deshalb können wir auch solche Tassen erkennen, die wir noch nie gesehen haben.
Das Beispiel ist vielleicht zu einfach, um darauf hinzuweisen, welche Rolle Begriffe spielen. Vielleicht bist du der Meinung, eine Tasse auch dann zuverlässig erkennen zu können, wenn du den Begriff nicht kennst, und nicht weist wozu eine Tasse genutzt wird. Einfach aufgrund der Ähnlichkeit der Erscheinung. Aber halten wir kurz inne und überlegen: Wenn ich den Begriff der Tasse nicht kenne, habe ich noch nie eine Tasse im Einsatz gesehen, noch nie jemanden aus einer Tasse trinken sehen, noch nie jemand ein Getränk in eine Tasse einschenken sehen. Denn sobald ich das sehe, fange ich an, den Begriff der Tasse zu bilden. Habe ich das noch nicht getan, dann werde ich nicht beurteilen können, worauf es bei der Tasse ankommt. Es könnte die Farbe sein, die goldene Verzierung am oberen Rand. Es könnte der Klang sein, den sie beim anstoßen macht. Ich weis dann nicht, welche Merkmale ich vergleichen muss, um von Ähnlichkeit oder einer signifikanten Abweichung sprechen zu können.
Damit möchte ich darauf hinweisen, dass wir Worte zwar auf den ersten Blick mit Vorstellungen verbinden, sich dahinter aber noch mehr verbirgt. Hinter den Vorstellungen liegen die Begriffe. Und Worte sind eigentlich dazu da, Begriffe zu benennen, und nicht Vorstellungen. Deswegen ist es so schwierig, Vorstellungen mit Worten zu beschreiben. Deswegen macht es einen Unterschied, ob ich ein Buch lese oder einen Film schaue. Beim Lesen eines Buches werden viel mehr Fähigkeiten benötigt und eingeübt. Denn ich lese im Buch Worte, und muss selbst von diesen Worten zu meinen Vorstellungen kommen. Wir verwenden dabei viele Vorstellungen, die wir direkt an die Worte knüpfen. Die im Buch beschriebene Welt baut sich in unserer Phantasie auf, aus den Vorstellungen, die wir in unserem Erfahrungsschatz bereits haben. Wir kombinieren dazu uns bereits bekannte konkrete Dinge neu, um etwas der Beschreibung entsprechendes zu erhalten. Wir werden Vorstellungen zusammensetzen zu Dingen, die wir noch nie gesehen haben. Wir wählen auch aus, denn viele Worte verbinden wir mit mehr als einer Vorstellung. Es wird dabei immer mal wieder nötig sein, auch auf die Begriffsebene zu wechseln, damit wir keine wichtigen Eigenschaften verlieren, wenn wir Dinge zu etwas Neuem verbinden. Beim Konsum eines Films ist nichts davon nötig. Wir bekommen fertige Bilder geliefert, brauchen uns keinerlei Vorstellungen suchen. Das stimmt zwar nicht ganz, auch im Film kann es gesprochene Worte geben, und hier und da geschriebenen Text. Dann müssen wir uns wieder an die Arbeit machen. Dazu haben wir aber nur die Zeit, die der Film uns gibt. Außer, wir drücken auf Pause. Beim Lesen können wir uns die Zeit nehmen, die wir brauchen, um die Worte in eine lebendige Welt zu verwandeln.
Wenn ich mir Gedanken mache über die Begriffe, die sich hinter den Worten verbergen, dann kann ich über meine Vorstellungen hinauswachsen und neue Vorstellungen bilden. Ich kann dann leichter in die Welt anderer Menschen eintauchen, ein Verständnis von den Vorstellungen bekommen, die sie mit den Worten verbinden. Kenne ich den Begriff, dann kann ich meine eigenen Vorstellungen dazu abwandeln und neu kombinieren, ohne mich vom Begriff zu entfernen. Ich kann dann flexibel reagieren auf abweichende Vorstellungen, die andere Menschen von einem Begriff haben und mit einem Wort verbinden. Darin liegt die Kunst der Kommunikation. Es geht nicht darum, dass jedes Wort bei allen Menschen mit genau der gleichen Vorstellung verbunden ist. Es geht darum, die Begriffe zu kennen, die zu den Worten und Vorstellungen gehören, und darüber unser Verständnis zu erweitern und zu entwickeln. Erschaffen wir dabei neue Vorstellungen, so nutzen wir dafür unsere Phantasie.
Begriffe sind allgemeingültig. Sie erlauben eine unbegrenzte Anzahl an Variationen, die alle dem Begriff treu bleiben. Jede Schneeflocke ist individuell, aber alle sind sie eindeutig Schneeflocken. Jeder Mensch ist individuell, aber alle sind sie eindeutig Menschen. Alles, was die Natur hervorbringt, ist eine einmalige Realisierung eines Begriffs. Vor der Industrialisierung galt das auch für alles, was der Mensch geschaffen hat. Heute produzieren wir gerne in großen Stückzahlen, um die Kosten zu senken – aber Variationen mögen wir nach wie vor. Es gibt etwa so viele Varianten an Tassen wie es Kopien einer Variante gibt. Wie auch immer, Begriffe sind allgemeingültig – wir können uns auf sie einigen, wenn wir uns die Mühe machen. Und ja, wir sollten alle das gleiche Wort für einen Begriff verwenden, wenn wir erfolgreich kommunizieren wollen. Wenn wir bemerken, dass wir ein Wort für verschiedene Begriffe nutzen, besteht ebenfalls Handlungsbedarf.