Der vorige Artikel endet mit dem Satz: “In einer uns rätselhaften Welt finden wir keine Ziele.” Wir nehmen vieles wahr in der Welt der Erscheinungen, unsere Sinne liefern uns eine Flut an Eindrücken. Vieles erkennen wir, vieles ist vertraut, manches wirft Fragen auf. Je mehr Fragen wir uns stellen, desto mehr Möglichkeiten ergeben sich für unsere Entwicklung. Rätsel sind also gut und wichtig, und sie fordern unsere aktive Tätigkeit. Wir wollen, solange wir gesund sind, die uns begegnenden Rätsel lösen. Wir haben ein Interesse, Antworten zu finden auf die Fragen, die wir uns stellen.
Es gibt viele Methoden, Antworten zu finden. Wenn wir noch jung sind und wenig Erfahrung haben, dann fragen wir meist erfahrenere Bezugspersonen. Bei dieser Methode können wir bleiben, und uns auch im fortgeschrittenen Alter an die Antworten derer halten, von denen wir glauben, dass sie auf dem betreffenden Gebiet viel Erfahrung haben. Zu diesem Zweck werden uns zum Beispiel Experten bereitgestellt. Mit zunehmendem Alter vermehrt sich unsere Erfahrung und es wird damit möglich, schneller eigene Antworten zu finden. Als Kind ist unser Vertrauen so groß, dass uns die Antwort der Bezugspersonen die Gewissheit gibt, die wir brauchen. Wenn wir älter werden, erfordert Gewissheit in der Regel, dass wir die Antworten selbst nachvollziehen und verstehen können, oder sogar selbst erarbeitet haben. Das macht einen erwachsenen Menschen aus. Verlagern wir das Vertrauen lediglich von den Eltern auf die Experten, ohne die Antworten selbst verstehen zu wollen, bleiben wir auf der Entwicklungsstufe eines Kindes. Zudem werden wir in aller Regel früher oder später mit Antworten konfrontiert, die mit vorigen Antworten in Konflikt stehen. Dann entsteht eine Situation, in der wir selbst aktiv werden wollen und wir uns dafür auch Zeit nehmen sollten.
Um Fragen zu beantworten, Konflikte zu lösen und Wissen zu schaffen steht uns die wissenschaftliche Methode zur Verfügung. Konkret bedeutet Wissenschaft das Erkennen von Beziehungen. Jede Wissenschaft versucht, zwischen den Erscheinungen in ihrem Bereich Zusammenhänge und Kausalitäten zu finden. Unsere Wahrnehmung bedarf einer Ergänzung durch den Geist. Die Wissenschaft durchtränkt die wahrgenommene Wirklichkeit mit im Denken erarbeiteten Begriffen. Der Grundirrtum der modernen Wissenschaft dabei ist, die Wahrnehmung der Sinne als etwas Fertiges anzusehen. Die Sinne liefern uns aber kein vollständiges Bild der Wirklichkeit, sondern immer nur einen Ausschnitt, eine Perspektive, eine spezielle Erscheinung. Das Denken gibt Zugang zur anderen Seite der Wirklichkeit, von der ein bloßes Sinnenwesen nie etwas erfahren würde. Denken dient nicht nur dazu, die Sinneseindrücke zu verarbeiten und zu sortieren, sondern auch dazu, das zu durchdringen, was den Sinnen verborgen ist.
Es gibt ein zweifaches Dogma, dem die Wissenschaft verfallen kann. Das Dogma der Offenbarung liefert Wahrheiten über Dinge, die sich unserem Gesichtskreis entziehen. Hier muss geglaubt werden, an die Gründe kommt man nicht heran. Das Dogma der Erfahrung hingegen stellt Behauptungen auf Basis von Beobachtungen auf, ohne zu allen bewirkenden Kräften vorgedrungen zu sein. Die frühere Wissenschaft litt am Dogma der Offenbarung, die heutige Wissenschaft leidet überwiegend am Dogma der Erfahrung. Es ist zudem gängige Praxis geworden, mit einer vorhandenen Erwartungshaltung an eine Beobachtung heranzutreten, und nach Bestätigung für eine Theorie zu suchen, die als die Richtige vorgegeben ist. So richtet sich die Aufmerksamkeit auf das, was erwartet und als wichtig angenommen wird. Darüber hinausgehende Einflussfaktoren bleiben unbeobachtet und finden keine Berücksichtigung. Dann werden schnell Kausalitäten postuliert, obwohl sich nur Korrelationen beobachten lassen. Die Forschung fährt sich dann fest, Irrtümer können nicht mehr erkannt und korrigiert werden, und eine Ideologie gibt die Richtung vor.
Es ist deshalb wichtig, in einem ersten Schritt immer unvoreingenommen und ergebnisoffen zu beobachten. Die Wahrnehmung gibt uns einen unmittelbaren Zugang zu den Erscheinungen der Welt. Diese Erscheinungen lassen meist Fragen offen, und es ist unsere Aufgabe, mithilfe des Denkens die Phänomene hinter den Erscheinungen zu finden. Gelingt uns dies, so haben wir etwas erkannt. Die Ideen hinter den Erscheinungen, also die zu unseren Wahrnehmungen passenden Begriffe, finden wir nur im Denken. Wir brauchen also beides, das Wahrnehmen und das Denken, wenn wir die Wirklichkeit erkennen und uns eine Vorstellung bilden möchten. So sammeln wir eigene Erfahrung.
Wissenschaftliche Überzeugung entsteht durch unser eigenes geistiges Vermögen, nicht durch von außen aufgedrängte fertige Behauptungen. Unser Wissen darf sich keiner äußeren Norm unterwerfen, sondern muss aus uns heraus entspringen. Es muss von eigenen Erfahrungen ausgehend zur Erkenntnis des ganzen Universums streben. Eine wissenschaftliche Lehre darf den Menschen nicht aufgezwungen werden. Das Bedürfnis, verstehen zu wollen, muss von jedem Individuum ausgehen. Anerkennung oder Zustimmung einzufordern ist nicht Aufgabe der Wissenschaft.
Dem ein oder anderen Leser mag aufgefallen sein, dass wir auch in der heutigen Zeit einigen Strömungen gegenüberstehen, die Forderungen an uns richten und im Namen der Wissenschaft oder auch der Moral aufzutreten behaupten. Jeder Mensch darf entscheiden, ob er sich diesen hingibt und sich an ihnen orientiert, oder ob er sie hinterfragt und auf Grundlage der eigenen Erfahrung zu eigener Orientierung findet. Wir brauchen Menschen, die den letztgenannten Weg gehen, damit ein System sich im Sinne der Menschen weiterentwickeln kann und nicht zum in die Irre führenden Selbstläufer wird. In der heutigen Zeit erfordert die weitere Entwicklung der Gemeinschaft eine Entwicklung des Einzelnen, die nicht nur durch Wahrnehmen und Fühlen getrieben ist, sondern sich vermehrt des Denkens bemächtigt.