Die Wissenschaft des Denkens

Die Beobachtung und Beschreibung des Denkens ist zugleich die Wissenschaft des Denkens.

Wenn wir etwas mit unseren Sinnesorganen beobachten, dann sehen wir die äußere Erscheinung von etwas. Wir erleben uns als dieser Erscheinung gegenüberstehend und müssen sie zunächst erkennen und einordnen. 

Wenn wir das Denken beobachten, dann zeigt sich dieses unserer Beobachtung in Gänze, es zeigt sich mitsamt seines Wesens. Im Denken Beobachtetes muss nicht ergänzt oder erkannt werden, es ist bereits vollständig. Wir erleben uns als Teil der Erscheinung.

Die sinnliche Wahrnehmung liefert uns ein zunächst Rätsel. Das fällt uns im Alltag meist gar nicht auf, weil wir diese Rätsel so schnell lösen, dass wir sie oft nicht mehr bemerken. Es erfordert Übung, oder die Konfrontation mit gänzlich neuen Sinneseindrücken (zum Beispiel durch eine Reise in eine fremde Umgebung), wenn wir wieder bemerken wollen, und auch beobachten wollen, wie unser Denken diese Rätsel löst. Unser Denken ist nämlich sehr schnell, wenn es darum geht, Sinneseindrücke mit bereits bekannten Erfahrungen abzugleichen und einzuordnen. Dies geschieht unbewusst im Hintergrund, und nimmt nur dann unsere Aufmerksamkeit in Anspruch, wenn uns etwas Neues begegnet. 

Aber zurück zur sinnlichen Wahrnehmung. Sie liefert uns die äußere Erscheinung der Wirklichkeit. Wir erleben uns als von dieser Wirklichkeit getrennt, können uns aber über sie definieren. Ich kann die Kleidung, die ich trage, als für mich wesentlich betrachten. Ich kann zu der Überzeugung gelangen, ohne diese Kleidung nicht vollständig zu sein. Eine Besonderheit ist unser physischer Körper. Wir können ihn sinnlich wahrnehmen, und unsere Sinnesorgane sind gleichzeitig ein Teil von ihm. Wir alle definieren uns in einem nicht unwesentlichen Maße mit unserem Körper, zumindest für eine gewisse Zeit im Leben. Es ist wichtig, dass wir das tun, denn wir sind für die Pflege und den Erhalt unseres Körpers verantwortlich. Unser Körper ist wichtig, um als Individuum existieren zu können. Wir nehmen also Dinge wahr mithilfe unseres Körpers. Wir teilen sie auf in zu uns gehörig und zur Welt gehörig. Wir machen dies über das Denken. Die Haare auf dem Kopf gehören zu uns. Liegen sie dann irgendwann beim Friseur auf dem Boden, sind sie wieder Teil der übrigen Welt. Die Teile, aus denen wir unseren Körper bauen, haben wir nur geliehen.

Manche Rätsel, die uns die sinnliche Wahrnehmung liefert, sind schwieriger zu lösen. Wir erleben ein Phänomen, und wir verstehen zunächst nicht, was passiert. Das macht uns unruhig. Wir haben ein Bedürfnis, unsere Umgebung zu verstehen, und Vorhersagen treffen zu können. Wir müssen also ergründen, was sich hinter den Erscheinungen verbirgt. Wir müssen die Regeln finden, die Ursachen hinter der sinnlichen Wahrnehmung. Dazu dient die Wissenschaft. Jeder Mensch sucht nach Regeln hinter seinen Wahrnehmungen und ist deshalb auch Wissenschaftler. Manche Menschen suchen in sehr speziellen Bereichen und werden dafür bezahlt, auch diese Menschen sind Wissenschaftler. Wir alle haben von klein auf gelernt, die sinnliche Wahrnehmung mit Begriffen zu ergänzen, die erscheinenden Dinge zu erkennen. Wir sehen zum Beispiel eine Tasse und erkennen direkt, welche Idee sich dahinter verbirgt. Schwieriger ist dies bei Objekten, die wir zwar sinnlich wahrnehmen, aber nicht selbst erschaffen haben. Aber auch hier können wir Ideen finden und verbinden, und stellen dann womöglich fest, dass sich diese Idee auch in anderen Objekten zeigt. Wir finden diese Idee im Denken, und fügen sie der sinnlichen Wahrnehmung hinzu. Erst dann haben wir die volle Wirklichkeit erkannt. Diese Erkenntnis können wir dann auch prüfen, zum Beispiel nach wissenschaftlicher Methodik durch weitere Beobachtung.

Wenn wir das Denken selbst beobachten, entfällt dieser Erkenntnisprozess. Seine Notwendigkeit entsteht durch die Trennung der Wirklichkeit, die uns normalerweise aufgeteilt über zwei Wege erreicht, erstens die Sinnesorgane und zweitens das Denken, und die wir dann aktiv wieder verbinden müssen. Im Denken beobachten wir etwas, das in uns zum Ausdruck kommt, und das sich in seiner Einheit ungeteilt beobachten lässt. Um das Denken in all seiner Klarheit zu erfassen, bedarf es lediglich der Beobachtung. Deswegen ist die Beschreibung des Denkens bereits die Wissenschaft des Denkens. Und die Ergebnisse können von jedem Menschen geprüft werden, der sein Denken beobachten kann. Das Beobachten des Denkens ist allerdings eine ungewohnte Tätigkeit für den heutigen Menschen und deshalb nicht ganz einfach. Wir haben gelernt, mit dem Denken Dinge zu behandeln, die außerhalb des Denkens liegen, zum Beispiel sinnliche Wahrnehmungen und Gefühle. Die Aufmerksamkeit auf das Denken selbst zu richten, ist ungewohnt. Es erfordert Übung.

Die Beobachtung des Denkens ist zugleich die wichtigste Beobachtung, die ein Mensch machen kann. Denn nur hier kann etwas in Gänze, vollständig  beobachtet werden. Diese eigenen Erlebnisse sind dann als Fundament geeignet, ein eigenes Weltbild zu erschaffen. Es ist die Grundlage dafür, als Mensch unabhängig zu werden von den Offenbarungen der Autoritäten, und selbst mehr und mehr in die Freiheit zu kommen.