Der Artikel “Vermeide Autoritäten” bedeutet nicht, dass gegen alle Aussagen autoritärer Menschen direkt rebelliert werden muss. Es ist nicht sinnvoll, die Äußerungen anderer Menschen unverstanden abzulehnen. Es ist für die eigenverantwortliche Entwicklung eines erwachsenen Menschen aber auch nicht sinnvoll, die Äußerungen anderer Menschen unverstanden zu übernehmen. Das meine ich, wenn ich sage: “Vermeide Autoritäten”.
Vorbilder sind wichtig für unsere Entwicklung. Gute Vorbilder können uns enorm voranbringen, inspirieren, in unserer Entwicklung unterstützen und zu großen Leistungen befähigen. Wir alle sind als Kinder darauf angewiesen. Und auch in fortgeschrittenem Alter behalten Vorbilder einen wichtigen Platz in unserem Leben. Wir sollten uns aber bewusst sein, dass wir mit zunehmendem Alter selbst die Rolle des Vorbildes für andere einnehmen, und unsere eigene Orientierung zunehmend aus uns selbst schöpfen sollten.
Kinder dürfen ihren Bezugspersonen blind vertrauen. Es ist ein notwendiger Prozess in der Entwicklung eines jeden Menschen. Ein erwachsener Mensch hingegen hat Entwicklungsdefizite, wenn er die Behauptungen, die an ihn herangetragen werden, ungeprüft übernimmt. Das ist so auch selten der Fall. Die spannende Frage ist, wie die Prüfung abläuft.
Grundsätzlich prüft jeder Mensch neue Eindrücke auf Übereinstimmung mit dem eigenen, individuellen Weltbild. Passt die Aussage zum Weltbild, ist die Prüfung bestanden. Liefert eine Quelle überwiegend passende Informationen, baut sich ein Vertrauensverhältnis auf. Werden hingegen unpassende Behauptungen an uns herangetragen, führt das oft zu Ablehnung. Die Prüfung ist dann nicht bestanden. Dass Maß für die Prüfung ist nicht die Wirklichkeit, sondern unser individuelles Weltbild. Deswegen reagieren Menschen so unterschiedlich auf Aussagen, obwohl wir alle in derselben Wirklichkeit leben. Mit abgelehnten Behauptungen beschäftigen sich die meisten Menschen nur ungern. Dabei bringt uns meist eine Betrachtung dessen, dem wir nicht direkt zustimmen, am meisten voran.
Unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Harmonie kann uns dazu bringen, manche Personen oder Institutionen als vertrauenswürdig zu beurteilen. Oft übernehmen wir diese Urteile auch von anderen Bezugspersonen. Dann werden die Aussagen aus dieser Quelle zur Wahrheit, die Aufforderungen zum Gebot. Zweifel an der Quelle werden als Verrat, als Angriff beurteilt. Dies ist der Fall bei Menschen, die allein völlig ohne Orientierung dastehen. Autoritäten vermeiden bedeutet für mich, als erwachsener Mensch einer Aussage meines größten Vorbildes genauso widersprechen zu können wie der Aussage einer gänzlich unbekannten Person. Um dazu in der Lage zu sein, ist Vertrauen in die eigene Urteilskraft notwendig.
Ein gutes Vorbild, ein guter Lehrer hilft uns dabei, unser Weltbild und unsere Glaubenssätze mit der Wirklichkeit abgleichen zu können. Je näher das uns vermittelte Weltbild bereits an der Wirklichkeit ist, desto einfacher ist diese Aufgabe. Ein Lehrer kann auch von uns verlangen, das Gesagte ungefragt aufzunehmen und in Form einer Prüfung exakt wiederzugeben. Diese Methode muss nicht grundsätzlich abgelehnt werden, sollte aber immer nur als Vorstufe für das wirkliche Lernen verstanden werden.
Eine persönliche Beziehung oder eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Vorbildern ist in höherem Alter nicht mehr selbstverständlich, wäre aber eigentlich weiterhin erstrebenswert. Als Kleinkind kommen für uns nur Vorbilder infrage, die in unserem direkt Umfeld wirklich anwesend sind. Menschen, die wir anfassen können, die uns Nahrung geben, die auf uns aufpassen und uns erziehen. Mit zunehmendem Alter sind wir dazu in der Lage, Vorbilder anzunehmen, die wir nur indirekt erleben. Dies ist ein in heutigem Umfang neues Phänomen, welches durch Radio, Fernsehen, Internet und ganz besonders die sozialen Medien zu enormer Bedeutung gekommen ist. Bereits als Teenager suchen sich viele junge Menschen ihre Vorbilder in dieser virtuellen Welt, in der wir nur durch ein kleines Fenster eine Blick auf die selektiv erstellte und aufpolierte Selbstdarstellung eines anderen Menschen werfen können. Das betrifft nicht nur Influencer, sondern auch Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens. Wir brauchen Lehrer – keine Influencer. Gute Lehrer beantworten Fragen, sie geben Inspiration, sie zeigen Wege auf. Sie feiern sich nicht selbst, und lassen ihren Schülern viel Raum, sich aus eigener Kraft zu entwickeln.
Oft sind Menschen, die wir nicht so genau oder gar nicht kennen, als Vorbilder besonders attraktiv. Wir sehen ihre Erfolge, die sie gern zur Schau stellen, und wir stellen uns vor, dass ihr ganzes Leben von Glückseligkeit durchtränkt ist. Die Schattenseiten ihres Lebens, ihre Probleme und nicht erfüllten Bedürfnisse sehen wir häufig nicht. Das Streben nach dem Leben eines kaum bekannten Vorbildes kann sich daher oft als Irrweg herausstellen. Nicht persönlich bekannten Menschen oder einer Organisation zu vertrauen ist eine ebenso schlechte Idee, wenn wir mehr sein möchten als ein Follower.