Pragmatische Ethik

Vielleicht hast du schon einmal den Spruch “Eigentum verpflichtet” gehört. Wenn wir unser erstes Eigentum erhalten, zum Beispiel ein Mäppchen mit Stiften für die Schule, dann sind wir dafür verantwortlich. Wir müssen es in gutem Zustand halten, verbrauchte Stifte erneuern, es möglichst nicht verlieren oder vergessen, und vielleicht sogar gegen das Begehren von Mitschülern verteidigen. Es ist gut, wenn Eltern ihrem Kind die Verantwortung für diese Dinge überlassen, und nicht jeden Tag das Mäppchen ihres Kindes prüfen und pflegen. Damit nehmen sie dem Kind die Möglichkeit, dies selbst zu tun und dabei zu lernen. Kinder wollen Dinge selber machen, sie müssen versuchen, scheitern und lernen. Das nicht zu erlauben, oder keine Zeit dafür zu haben, ist einer der häufigsten und tragischsten Fehler.

Je mehr Eigentum wir haben, desto mehr Verantwortung haben wir. Irgendwann sind wir damit überfordert. Ein Unternehmer, dessen Unternehmung über Jahre wächst, wird sich wahrscheinlich Mitarbeiter suchen. Irgendwann wird er diesen Mitarbeitern auch Verantwortung überlassen müssen, weil er selbst nicht mehr alle Vorgänge überblicken und überwachen kann. Er gibt vielleicht kein Eigentum ab – aber die Pflicht, die mit dem Eigentum einhergeht, wird aufgeteilt auf mehrere Menschen. Gute Chefs sind wie gute Eltern – sie können Verantwortung abgeben, erlauben Fehler, geben Freiraum und müssen nicht immer alles überwachen – sind aber da, wenn sie gebraucht werden. Sie schaffen ein Umfeld, in dem eine gute Entwicklung möglich ist, und können dabei auch Hilfe von anderen annehmen. Sie ermutigen Mitmenschen und trauen ihnen etwas zu. Und wenn etwas schief geht, obwohl alle ihr Bestes gegeben haben, dann sind sie aufmunternd und übernehmen Verantwortung. 

Wir alle sind Chef unseres eigenen Lebens, und auch unseres Körpers – jedenfalls wenn wir erwachsen sind und diese Aufgabe annehmen. Wir sind verantwortlich für unsere Handlungen. Wir sind zuständig für unsere Entwicklung und unseren Zustand. Wenn wir erkennen, dass wir mit einer Handlung Leid, Krankheit oder Tod verursachen – dann haben wir auch Verantwortung dafür. Aber auch wenn wir dies erkennen, ändern wir uns womöglich nicht direkt. Gewohnheiten verschwinden nicht automatisch, nur weil wir sie als schlecht erkannt haben. Eine Gewohnheit zu ändern braucht Zeit, erfordert Willenskraft. Wenn wir etwas als schlecht erkennen, ist das potentiell der Beginn eines neuen Weges, wenn wir in der Lage sind, ihn einzuschlagen. 

Manche Menschen sind es womöglich von Kind an gewohnt, immer alles nach besten Wissen richtig zu machen. Sie haben das Glück, in einem Umfeld groß zu werden, in dem alles richtig läuft, oder sie erkennen die ethisch falschen Handlungen ihrer Bezugspersonen nicht. Für sie ist es ganz klar, dass sofort eine Änderung nötig ist, wenn etwas als falsch erkannt wird. Andere merken schon früh, dass einige Dinge eigentlich nicht richtig sind. Aber als junger Mensch passen wir uns an unsere Umgebung an, wir haben dann weder die Macht noch die mentale Reife, die eigenen Erkenntnisse durchzusetzen. Es ist wichtiger, dazu zu gehören und anerkannt zu werden. Es wird dann für uns normal, Dinge zu tun, die wir zwar als ethisch falsch erkannt haben, die unsere Mitmenschen uns aber vorleben. Ein solcher Mensch wird sich nicht direkt ändern, wenn man ihm sagt, das etwas nicht richtig ist. Es war nie richtig, das hat er immer gewusst, und dennoch wurde es ihm so beigebracht. Und er hat es in jungen Jahren angenommen und akzeptiert, dass auch falsche Dinge in die Alltagspraxis Einzug nehmen.

Menschen mit hohen Ansprüchen haben eine Tendenz, unzufrieden zu sein und sich zu überfordern. Wenn ich mir viel vornehme und es nicht oder nur auf Kosten anderer wichtiger Aufgaben schaffe, dann schade ich mir mehr, als wenn ich einige Themen zunächst einmal zurückstelle und erst dann angehe, wenn wieder genug Kapazitäten frei sind. Wie viel Energie ich habe, und wie viel davon verfügbar ist, das ist sehr individuell. Welche Missstände mir wichtig sind, und wie viel ich wissen und verstehen will, bevor ich etwas ändere, ist ebenfalls sehr individuell. Manche spüren, was richtig ist, und legen direkt los. Andere suchen nach einem tieferen Verständnis, warum die Dinge so sind, warum etwas falsch oder richtig ist. Sie urteilen nicht so schnell, ändern sich nicht so schnell. Wer ewig sucht und nie etwas ändert, bleibt hinter seinen Möglichkeiten sicherlich zurück. Im anderen Extrem, wenn ich all meine Kraft in Veränderung investiere, dann gewinne ich keinen Überblick mehr und bleibe ebenfalls zurück. 

Unsere gesamte Wirtschaft und Politik ist von Anreizen durchsetzt, die aus ethischer Sicht bedenkliches Verhalten fördern und belohnen. Wie es dazu kommen konnte, darüber wird hier noch mehr als ein Artikel erscheinen. Es ist auch eine Folge unserer Weltanschauung, unserer philosophischen Glaubenssätze. Die Gedanken einiger Philosophen haben dazu beigetragen. Das soll kein Vorwurf sein, die Gedanken haben auch ihre Berechtigung. Es wäre vielleicht verlockend, diesen Abschnitt unseres Weges zu überspringen. Und als Einzelperson ist uns die Freiheit gegeben, durch dieses dunkle Tal schnell hindurch zu gehen. Aber die Entwicklung der Welt als Ganzes können wir nicht beliebig beschleunigen. Sobald wir erkennen, wo wir gerade sind, müssten wir uns eigentlich von fast allem Distanzieren, was gerade passiert. Wir gehen dann schnell überall vom Schlimmsten aus, weil es uns am wahrscheinlichsten erscheint. Dann müssen wir entweder alles selber machen, oder nach Gleichgesinnten suchen, denen wir vertrauen und mit denen wir dann guten Gewissens wieder Handel treiben können. 

Alternativ lassen wir uns auch auf Kompromisse ein. Übergangslösungen. Zwischenschritte. Wenn ich ein Ziel vor Augen habe, muss ich mich nicht schlagartig dorthin versetzen. Ich muss mich nur auf den Weg in die richtige Richtung begeben. Die meisten Menschen behalten hier und da blinde Flecken, oder akzeptieren den ein oder anderen Missstand zunächst. Ein Mensch ist dazu in der Lage, Dinge auszublenden. Zu verdrängen. Zurückzustellen und aus den Gedanken fernzuhalten. Es gibt Menschen, die können Dinge genießen, obwohl sie wissen, dass sie ihnen schaden. Obwohl sie wissen, dass sie unter den Folgen des Genusses leiden werden. Andere Menschen können das nicht. Es gibt auch Menschen, die können Dinge genießen, obwohl sie wissen, dass sie damit Strukturen mitfinanzieren, die Leid verursachen. Oft haben wir das Leid nie gesehen, nur davon gehört. Wir können uns diese Dinge schönreden oder auch ganz vermeiden, an das Leid zu denken. Das dient nicht unbedingt der Faulheit, sondern auch dem Schutz vor Überlastung und Ausgrenzung. Wenn in unserem Weltbild ein Kartenhaus zusammenbricht, können wir deshalb noch lange nicht plötzlich alles anders machen. Es ist eine verständliche Reaktion, einen Teil des Kartenhauses zunächst vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Oder die Konsequenz dieses Zusammenbruchs nicht direkt auf alle Aspekte unseres Alltagslebens zu übertragen und anzuwenden. Wir brauchen Zeit, um uns neu zu orientieren. Wir können erst mal das Beste aus unserer Situation machen, auch ohne den Job zu kündigen oder alle Bezugsquellen für den Alltagsbedarf aufzugeben.

Um einen guten Mittelweg und ein passendes Tempo zu finden, ist es sicher hilfreich, sich genauer damit zu beschäftigen, was Faulheit eigentlich ist. In welchem Zusammenhang steht die Bequemlichkeit, und wie entsteht sie? Welche Rolle spielen Verführung und Ablenkung? Es kann passieren, dass ausgeblendete Dinge ein Leben lang im Hintergrund bleiben und nie mehr in Angriff genommen werden. Dann kommt die Zeit dafür im nächsten Leben. Wenn wir aber zügig weiterkommen in unserer Entwicklung, dann werden diese Dinge wieder in unser Leben zurückkehren. Sei es durch eigene Initiative oder durch einen Anstoß von außen. Oder durch eine Kombination aus beidem. Und dann werden wir Lösungen finden.